24 Stunden in Venezia

Seit nunmehr 6 Jahren reise ich zwei, drei oder vier Mal pro Jahr in meine europäische Lieblingsstadt Venedig. Der Hauptgrund für diese Reisen sind meine Fotoworkshops, die ich seit 2014 gebe und die notwendige Erholung und Ruhe, die ich nur in Venedig finde. Mit dieser Stadt verbindet mich aber noch so viel mehr. Die Liebe zu Italien, den Italienern und der italienischen Sprache, genauso wie das viele Wasser, das gute Essen und die Fähigkeit der Italiener das Leben in vollen Zügen zu genießen. Schon während meines ersten Besuches in dieser einzigartigen Stadt war mir klar, dass ich nicht das letzte Mal in Venedig gewesen bin. Was gibt es Schöneres als Arbeit, Spaß und Erholung miteinander zu verbinden. Aus diesem Grund reise mich meist schon vier bis fünf Tage vor Workshopbeginn an und Einige von Euch werden sich vielleicht fragen wie ich mir während dieser Tage die Zeit vertreibe und was man an einem Tag alles anstellen und erleben kann. Neben dem Suchen neuer Fotospots bin ich natürlich ununterbrochen unterwegs um bereits erkundete Fotospots wieder und wieder aufzusuchen um sicher zu gehen, dass keine Baustellen oder sonstige Schwierigkeiten den Platz für meine Workshops unbrauchbar machen. Es kommt aber auch vor, dass ich mich ganz entspannt durch die Stadt der Städte treiben lasse um runter zu kommen und die besondere Atmosphäre Venedigs zu erleben. Davon handelt dieser Bericht.
Auch im Urlaub hält es mich nicht lange im Bett, sodass ich, ob mit oder ohne Kamera, oft schon früh morgens durch die Stadt streife. Venedigs Gassen fast menschenleer zu erleben ist für mich das Größte. Meine Reisen plane ich meist so, dass ich zum Voll- oder Neumond in der Stadt bin. Warum? Die Antwort ist einfach. Aqua Alta. Das berühmte Hochwasser Venedigs lässt sich meist zu Voll- bzw. Neumond erleben. Was für die Venezianer ein eher unangenehmes Schauspiel ist, ist für Venedigbesucher ein absoluter Höhepunkt. In Gummistiefeln geht es schnurstracks zum Markusplatz, dem Anlaufpunkt für Venedigbesucher schlechthin. Und obwohl ich schon dutzende Male hier war, zieht es mich immer wieder zur Piazzetta. Die Gondeln, die sich durch die Wellen kämpfen, die Weite, wenn ich aus der Lagune heraus blicke und die läutenden Glocken des Campanile zum Sonnenaufgang sind pure Erfüllung. Das ist Glück in Reinform.
Das Wetter hier schlägt manchmal schneller um als ich Venezia herausbrüllen kann und so ziehen die ersten dichten Nebelschwaden in die Stadt hinein. Es ist fast windstill und es wird von Minute zu Minute kälter.

Hochwasser und Nebel. Diese Kombination ist äußerst selten, da das Hochwasser erst bei Südwind, dem berüchtigten Scirocco, in die Lagunenstadt gedrückt wird. Wind und Nebel sind jedoch nicht die besten Freunde, sodass sich Aqua Alta und feinste Nebelstimmung in der Regel gegenseitig ausschließen. Nicht so heute! Der Nebel wird immer dicker, bis er nach guten zwei Stunden seinen Höhepunkt erreicht und sich langsam wieder aus Venedig zurückzieht. Er weicht der aufgehenden Sonne, die sich stärker und stärker bemerkbar macht. Fotopause! Ein warmer Kaffee, den ich im kleinen Café einer kleinen Seitengasse ergattert habe und eine Entspannungszigarette helfen mir die Stimmung regelrecht einzusaugen und den Blick schweifen lassen. Den Vaporetti zuzuschauen, die die Venezianer zur Arbeit bringen, und den Geräuschen der erwachenden Stadt zu lauschen, machen den Entspannungsmoment perfekt. Ich mache einen kurzen Abstecher auf die Insel San Giorgio Maggiore und traue meinen Augen kaum. Weit entfernt biegt eines der gefürchteten und unbeliebten Kreuzfahrtschiffe links ab und nimmt direkten Kurs auf den Canal de la Giudecca, an dessen Ende sich das Kreuzfahrtterminal für die 3000 bis 6000 Passagiere befindet, die sich auf diesen Ungetümen über die sieben Weltmeere schippern lassen. Obwohl ich diesen Giganten alles andere als freundlich gesinnt bin und nur hoffen kann, dass Venedig in Zukunft zur Besinnung kommt und die Kreuzfahrtschiffe weiter außerhalb anlegen lässt, kann ich nicht widerstehen und muss ein Foto schießen. Dieser Riese wird langsam von einem kleinen Schlepper vorangezogen und erst jetzt wird das Größenverhältnis deutlich. Der imposante Campanile am Piazza San Marco wirkt wie ein zerbrechliches Streichholz gegenüber dieses Monsters aus Stahl.
Nach gut 20 Minuten ist der Spuk vorbei und die ich gebe mich mit der Fotoausbeute zufrieden. Die trockene Kälte zieht allmählich in die Knochen und mein Magen meldet sich immer deutlicher. Hunger! Frühstück! Da war doch was!
Um auf dem Rückweg zum Hotel nicht vollständig zu verhungern mache ich einen Abstecher zum Caffè del Doge, nahe der Rialtobrücke. Ein Cappuccino und ein kleiner Snack spenden mir genug Energie für den Rückweg. Mein Hotel, eines meiner Lieblingshotels wenn ich in der Stadt bin, liegt nicht weit vom Bahnhof entfernt. Zu Fuß von der Rialtobrücke laufe ich entspannte 20 Minuten vorbei an den ersten Marktverkäufern, den älteren Damen eingemummelt in ihre dicken Mäntel, den schiefen Kirchtürmen und den Schülern auf dem Weg zur ersten Stunde.
Das Frühstück im Hotel wird ausgiebig zelebriert. Ich sichere mir einen Tisch direkt am Fenster mit Blick auf den Canal Grande. Es ist 9:30 Uhr und die Vaporetti füllen sich langsam. Die Touristen übernehmen schleichend die Stadt und beginnen ihre Eroberungsfeldzüge jeden Morgen auf´s neue auf den zahlreichen Transportmitteln des Kanals, die sie zu den berühmten "Schlachtfeldern" Ponte di Rialto, Ponte dell`Accademia und natürlich Piazza San Marco bringen. Ich nippe mittlerweile an meinem dritten Kaffee und freue mich über den entspannten Start in den Tag.

Nach diesem wunderbaren Frühstück entscheide ich mich für ein Fahrt nach Burano, meiner absoluten Lieblingsinsel. Obwohl dieses kleine Eiland regelmäßig von zahlreichen Touristenströmen überflutet wird, habe ich im Laufe der Jahre dankbare Ecken gefunden, in die sich kein Tourist verirrt. Das ist das Schöne an dieser Insel. Im Zentrum tobt das Leben und nur zwei Ecken weiter kann ich mit der Stille um die Wette schweigen. Burano ist besonders bekannt für seine zahlreichen bunt angestrichenen Häuschen, die sich entlang der schmalen Kanäle aufreihen und quasi das Markenzeichen der Insel darstellen. Aber nicht nur die Häuser sind weltberühmt. Die Insel hat sich in der Vergangenheit einen Namen in der Stickszene gemacht und jedes kleine Geschäft bietet die unterschiedlichsten, aufwendigen Stickereien an, um sie besonders der Touristin schmackhaft zu machen.
Von der Fondamente Nuove, zu der ich vom Hotel zu Fuß laufen kann, nehme ich das Vaporetto der Linie 12 und fahre innerhalb von ca. 40 Minuten vorbei an der Friedhofsinsel San Michele direkt nach Burano. Die Fahrt ist unbeschreiblich schön. Ich stehe draußen auf dem Deck des Wasserbusses und der kalte Novemberwind weht mir um die Nase. Die Sonne scheint und der Blick ist fast endlos. Bei gutem Wetter sind von hier aus die Alpen in der Ferne gut zu erkennen. Vorbei an den alten, verlassenen Pestinseln tuckert der Dampfer gemütlich dahin bis die gefühlten 500 Touristen und ich auf Burano anlegen. Nur kurz laufe ich den Besucherströmen hinterher. An der ersten Kanalbiegung angekommen lasse ich die Touristen Touristen sein und steuere meine Fotospots an. Steht alles noch? Sind wichtige Details verschwunden oder vielleicht sogar dazugekommen? Venedig und seine umliegenden Inseln befinden sich in ständigem Wandel und bei genauerer Betrachtung fällt dem aufmerksamen Beobachter auf, dass bei jedem neuen Besuch mal hier ein Häuschen fehlt und mal dort eine neue Anlegestelle hinzugekommen ist. Venedig ist immer für eine Überraschung gut und ich möchte nicht unvorbereitet in meine Fotoworkshops gehen.
Mein Mittagessen, eine saftige Calzone, in der Trattoria Romano habe ich mir wohl verdient. Dazu ein Spritz Select für die gute Stimmung, frei nach dem Lebensmotto von Harald Juhnke: "Meine Definition von Glück? Keine Termine und leicht einen sitzen."
La dolce vita wie ich es mir nicht süßer erträumen könnte.
Es ist bereits Nachmittag und ich beschließe gemütlich den Rückweg anzutreten um noch einen Zwischenstopp auf der Friedhofsinsel Isola di San Michele einschieben zu können.

Von außen betrachtet stellt die Friedhofsinsel schon lange eines meiner Lieblingsmotive dar, aber ich habe mir in all den Jahren nie die Zeit genommen diese kleine Insel ausgiebig zu erkunden. Mein Dank gilt Thorsten Kohl, einem meiner Venedig-Workshopteilnehmer, der mir den Tipp gab, dass ich San Michele unbedingt einen Besuch abstatten soll. "Es wird Dir gefallen!" waren seine Worte. Gesagt, getan. Friedhöfe erkunden stellt zwar nicht unbedingt meine Lieblingsbeschäftigung dar, aber die Geschichte dieser seit dem 13. Jahrhundert bestehenden Insel ist wahnsinnig interessant. Zudem ist dieser Friedhof wohl einer der gepflegtesten den ich je gesehen habe. Auf jedem Grab wurden frische Blumen abgelegt. Es wurde ausgiebig geharkt, gegossen und gejätet. Und es sind viele Gräber! Das Fotografieren auf dem Friedhofsgelände ist generell nicht gestattet aber einen Schnappschuss kann ich mir nicht verkneifen, als die Sonne sich wieder blicken lässt. Man möge es mir verzeihen, denn das Licht ist magisch und die Atmosphäre einzigartig. Gute anderthalb Stunden vergehen auf San Michele wie im Flug. Die Sonne steht tief und ich fahre zurück zur Fondamente Nuove. Meine zarten Füßchen benötigen eine Pause. Sie sind erschöpft. Ein Nickerchen im Hotel ist genau das Richtige!
Gegenüber meines Hotels wartet eine halbe Stunde später meine Pasta auf mich. Gino´s Pizzeria besuche ich in besonders faulen Momenten. Nämlich dann, wenn jeder Knochen schmerzt. Bequemer geht`s doch kaum. Gino´s Pizzera ist ein typisch italienisches Restaurant à la Susi und Strolch. Rotweiß karierte Tischdecken. Etwas mitgenommene Holztische und herzallerliebste Bedienungen. Dazu kann ich Gino´s Pasta genauso empfehlen wie seine Pizzen.
Langsam wird es dunkel in Venedig. Obwohl meine Füße schmerzen, streiken und jammern, nehme ich mir die Zeit für einen Streifzug durch die engen Gassen Venedigs. Nachts zeigt sich La Serenissima von ihrer stillen und verborgenen Seite. Für mich ihre Schönste. Dann, wenn die fleißigen Venezianer ihren wohlverdienten Feierabend machen, heim gehen und die vielen Lichter in den uralten Gebäuden beginnen zu leuchten, tauscht die Stadt ihren Trubel gegen die lang ersehnte Gemütlichkeit. So schnell wie Venedig erwacht ist, so schnell fällt es auch wieder in einen tiefen Schlaf.

Oftmals finde ich mich ganz allein in den dunklen Gassen wieder, die vom Licht der wenigen Straßenlaternen nicht erreicht werden. Trotz der Dunkelheit und Einsamkeit könnte ich mich hier nicht sicherer fühlen. Venedigs Kriminalität beschränkt sich in der Regel auf illegale Straßenhändler, Taschendiebstähle und Verkehrsdelikte. Einwohner und Besucher hingegen bewegen sich generell sehr sicher durch Venezia.
Besonders häufig treibt es mich in die verzweigten Seitengassen rechts und links der Strada Nova, die einem Labyrinth ähneln. Ich verlaufe mich gern um Neues zu entdecken und der Spaziergang durch diesen uralten Irrgarten aus Stein ist Teil meines venezianischen Entspannungsprogramms. Fast immer purzeln mir die Fotospots, aufgrund der Vielzahl von extrem fotogenen Plätzen, fast von allein vor die Füße. Das jüdische Viertel, auch Ghetto, genannt ist definitiv einen Besuch wert. Die Herkunft des Namens Ghetto ist nicht vollständig geklärt aber es wird angenommen, dass er sich vom italienischen Ausdruck geto (Gießerei) ableitet und sich im Laufe der Zeit zu gheto oder ghetto entwickelt und eingeprägt hat. Wahrscheinlicher Grund hierfür war die Ansiedlung der Juden in das Stadtviertel der ungeliebten Eisengießer, daher der Zusammenhang mit „geto“. In Venedig taucht die Bezeichnung in dieser Form erstmals im Jahr 1414 in einer Akte auf. 1562 gebrauchte Papst Pius IV. das Wort in einer Bulle erstmals für ein abgeschlossenes jüdisches Stadtviertel (Ghetto). Gegen Ende des 16. Jahrhunderts hatte sich das Wort ghetto für abgeschlossene jüdische Wohngebiete in italienischen Städten durchgesetzt. Quelle: Wikipedia
Das Ghetto befindet sich auf einer kleinen Insel im Sestiere Cannaregio, auf der in jeder Nacht vor vielen hundert Jahren, die Juden der Stadt eingesperrt wurden. Das Ghetto ist ausschließlich über drei Brücken erreichbar und erscheint mir aufgrund der bewegten, dramatischen Historie wie eine andere Welt in der eh schon einzigartigen Welt Venezia. Besonders nachts besitzt dieses Viertel eine ganz besondere Magie und Ausstrahlung. Ein kleines Stück des jüdischen Lebens eröffnet sich aufmerksamen Besuchern bei einem unauffälligen Blick durch die hell erleuchteten Fenster. Mehrere Synagogen sind in diesen engen, verwinkelten Gebäuden untergebracht worden. Faszinierend.
Obwohl Venedig flächenmäßig eher klein aufgestellt ist, bin ich immer wieder erstaunt wie viel neue Orte ich nach so vielen Jahren trotz des begrenzten Raumes entdecken kann. Die ernüchternde Erkenntnis, dass 24 Stunden in Venezia lange nicht ausreichen um auch nur einen Bruchteil dieser fantastischen Stadt zu erkunden, treibt mich wieder und wieder an um neue Überraschungen auf mich zukommen zu lassen. Es wird wohl noch Jahre dauern bis ich jeden Stein umgedreht und jede Gasse erobert habe. Bis dahin freue mich auf viele weitere Touren und Fotoworkshops mit motivierten Teilnehmern.
Infos zu meinen Fotokursen finden Sie hier.